Erleben wir das Ende der Kirche?

Der Kirche bläst der Wind wieder einmal ins Gesicht:

Missbrauch von Schutzbefohlenen, systematische Vertuschung von Straftaten, das Schweigen in der Coronakrise. Es gibt viele Gründe für den heutigen Menschen die Kirche zu verlassen. Und dann kommen die Vorschläge: Die Kirche müsste attraktiver, flotter, moderner, anziehender, näher bei den Menschen sein.

Je mehr ich dies höre, desto öfter kommt mir eine
Geschichte in den Sinn. Sie soll sich wirklich zugetragen haben, in einer Kleinstadt irgendwo in Amerika. Mancher mag sie schon kennen.

Der Pfarrer, der neu in die Gemeinde kam, predigte am ersten Sonntag vor leeren Bänken. Bei den Besuchen in der folgenden Woche hörte er immer wieder: „Die Kirche ist eben tot!“ Trotz dieses Urteils trauten die Gemeindemitglieder ihren Augen nicht, als in der Samstagszeitung eine große Todesanzeige stand:  „Hiermit gebe ich das Ableben der Kirche in Yonderton bekannt. Die Totenmesse ist Sonntag um 10 Uhr in der Kirche. Der Ortspfarrer“. Am Sonntag um 10 drängten sich die Menschen in die Kirche.

Tatsächlich, vorn vor dem Altar stand ein Sarg, und der Pfarrer sagte nach dem ersten Teil der Begräbnisliturgie: „Ich bitte Sie nun alle, nach vorn zu kommen und der toten Kirche im Sarg hier die letzte Ehre zu erweisen. Sollten Sie allerdings nach dem Vorbeischreiten am Sarg den Eindruck haben, die Kirche sei doch noch nicht tot, bitte ich Sie, zum Seitenportal wieder hereinzukommen.“ Der Zug der Menschen zum Sarg begann. Vor jedem, der an den Sarg trat, öffnete der Pfarrer den Sargdeckel, der Betreffende sah hinein und ging dann weiter, viele sehr betroffen. Und noch bevor die Letzten am Sarg vorbeigegangen waren, drängte eine große Menge wieder zum Seitenportal hinein.

Was dort im Sarg lag, möchten Sie wissen? Was für ein Anblick so stark war, dass er die Meinung der meisten
veränderte?

Nun, jeder, der in den Sarg schaute, sah nicht die ganze tote Kirche, sondern eines ihrer Glieder: Er sah sich selbst. Im Sarg hatte ein Spiegel gelegen.

Eben, „die Kirche“, das sind ja Sie und ich, alle Getauften. Wie lebendig oder wie tot die Kirche ist, wie anziehend oder abstoßend, das bestimmen Sie mit.

Gemeindereferent Carsten Sperling